Lust auf eine Fahrt mit der Achterbahn?

27. Januar 2020

Lust auf eine Fahrt mit der Achterbahn?

Ja. Das habe ich!! Jeden Tag. Manchmal mehr – manchmal weniger. Doch jeden Tag stelle ich mich freiwillig in die Schlange und freue mich darauf, in die Achterbahn einzusteigen. In der Schlange stehend und mit Blick auf die Achterbahn, weiß ich, dass ich mich auf ganz Unterschiedliches einlasse. Nervenkitzel. Adrenalin. Großer Respekt und kurze Momente, in denen man denkt: Was mache ich hier?? In der Achterbahn, die ich täglich hier fahre, begegnen mir Höhen und Tiefen. Phasen, in denen die Gefühle in Sekundenschnelle ein paar Meter hinunterstürzen und im nächsten Moment eine Strecke, auf der man wieder etwas Stabilität und Ruhe gewinnt. Plötzlich geht es dann wieder ganz hoch hinaus, bin beschwingt von der Fahrt, genieße den Ausblick, die Achterbahn und denke: hier will ich bleiben. Zeit bleibe stehen. – Doch im Hinterkopf weiß man, dass die Höhen nicht existieren können, wenn es keine Tiefen gibt. Wenn es keine Steigung, kein Gefälle, keinen Tiefpunkt und vielleicht auch keine Stagnation gibt. Das Schönste dabei ist, dass ich jeden Tag in eine neue Achterbahn steige. Unwissend, was mich heute erwartet. Nichtsahnend, wie die Fahrt verlaufen wird. Trotz der kurzen Panikattacken, wenn man das Gefühl hat, dass man gerade irgendwie doch nicht hier in dieser Achterbahn sitzen möchte, da es einfach nur 180 Grad abwärts geht. Oder wenn man gerade den schnellen Wechsel der Höhen satt hat und man sich einfach nur nach Boden unter den Füßen – einer Ruheoase – sehnt. Oder wenn man merkt – sich im Looping befindend- wie spannend ist, die Welt auch mal aus einem anderen Winkel zu sehen. Oder dann auch, wenn man sich wünscht, dass sich diese eine Kurve noch einmal wiederholt oder wenn man darum betet, dass der Wagen etwas langsamer fährt, damit ja dieser Moment nicht vorüber geht oder auch, damit einem ja nicht zu schwindelig von allem wird. Wenn ich dann aufgewühlt, total begeistert oder auch erschöpft aus der Achterbahn steige, bin ich jedes Mal sehr froh, die Fahrt mit allen Facetten erlebt zu haben. Den Mut gehabt zu haben, da einzusteigen. Und die Herausforderung angenommen zu haben.– Gemerkt habe ich, dass es das Beste ist, wenn ich mich offen für Überraschungen und Neues und ohne hohe Erwartungen in die Achterbahn hineinbegebe.

„Wie geht es dir?“ Diese Frage wird mir oft gestellt. Darauf antworte ich manchmal mit dieser metaphorischen Beschreibung meiner Achterbahnfahrten hier in Costa Rica oder dann auch, wie es mir genau in diesem Moment geht.

Ein neuer Alltag in Costa Rica

Nun nach fast vier Monaten voller neuer Eindrücken und Erfahrungen, kann ich auf alle Fälle sagen, dass ich ein Leben hier – mit Gewohnheiten, Hobbys, neuen Freunden und Bekannten, und einem Arbeitsplan – aufgebaut habe. Dieses Leben habe ich inzwischen wirklich als meine Realität angenommen (Momente des Staunens und des Gefühls der Surrealität erlebe ich natürlich weiterhin)- kurz gesagt: ein Alltag hat sich für mich etabliert.

Bevor ich Euch einen Einblick in mein Leben und das meiner Mitmenschen hier gebe und auf die Weihnachtszeit in Costa Rica eingehe, möchte ich kurze meine Einsatzstelle erläutern – Inzwischen habe ich (unter anderem mithilfe eines Fragebogens) einen guten Überblick über meine Einsatzstelle – Denn es nicht leicht, zu überblicken, was das Centro Cívico por la Paz alles bietet.

Einsatzstelle ,,Centro Cívico por la Paz“

Im Centro Cívico por la Paz in Guarari/Heredia arbeiten verschiedene Organisationen und Ministerien. Jede hat ihren eigenen Raum, aber sie arbeiten auch an gemeinsamen Projekten. Hinzu kommt, dass das Centro Cívico por la Paz Raum für Veranstaltungen anderer Organisationen bietet.Alles in allem haben alle beteiligten Organisationen das Ziel, die Menschen aus dem Viertel zu fördern, ihre Talente und Interessen zu stärken und einen Raum für Gemeinschaft und Begegnung zu schaffen. So sind Bildung, Pädagogik und Beratung bei Konflikten Grundbausteine des Zentrums.Letztendlich möchte man so die Leute von der Straße, Kriminalität, Drogen, Diskriminierung und Gewalt wegführen.

Es gibt ein breites Angebot: Kunstunterricht, Musikunterricht (Gitarren- und Klavierunterricht, Chor), PANI (eine Organisation, welche Kindern bis etwa 10 Jahren unterstützt und Bildung und Freizeitangebote im Bereich Spiel und Spaß (Kunst, Sport,..) bietet), Sportkurse wie Fitness/Ausdauer und Zumba, LigaFEM (Fußball für Mädchen und Frauen), einen für die Öffentlichkeit ständig zugänglicher Skaterpark und zwei Fußballplätze, Tischkicker, Tanzunterricht, Spielplatz, Theaterunterricht, eine Bibliothek mit der „club de la lectura“ (Lektüreverein zu deutsch), rechtliche Beratung für Geflüchtete und vieles mehr. Ein wichtiger Teil des Zentrums ist „la casa de la justicia“ (Haus der Gerechtigkeit). welches den Menschen aus dem Viertel Beratung bei Konflikten anbietet. Das bedeutet, dass beispielsweise im Falle eines Streites zwischen Nachbarn oder in der Ehe, die Beteiligten in einem Dialog mit professioneller Beratung versuchen, friedlich den Konflikt zu lösen. Andere Events wie den Friedensmarsch und die Eröffnung der Ausstellung in einem Kulturzentrum in Heredia Centro „¿Quién soy Guarari?“ (Wer bin ich Guararí? – Guararí ist das Viertel, in dem ich wohne und arbeite) habe ich bereits miterlebt – und auch vorbereitet: indem ich unter anderem bestimmt etwa hundert Plakate gemalt habe oder auch beim Aufbau der Ausstellung (mit Kunstprojekten der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen des Zentrums) und bei der Eröffnung mitgeholfen habe. Auch gibt es einmal pro Monat eine Veranstaltung für Jugendliche und junge Erwachsene, welche sich „Juventud hablan“ (Jugend spricht) nennt. In diesem Rahmen findet monatlich eine Veranstaltung zu einem Thema mit Bezug auf Menschenrechte und anderen sozialen und gesellschaftlichen Themen, statt. Zum Beispiel habe ich die Veranstaltung erlebt, bei der die Jugendlichen untereinander und mit Begleitung einer Frau des Kulturministeriums über das Thema Suizid gesprochen haben.

Als Freiwillige bin ich in vielen verschiedenen Bereichen tätig. Ich gebe Nachhilfe, gebe Bastelworkshops, unterstütze den Kunst – und Sportunterricht und bei Events. Auch helfe ich wöchentlich einmal einer Arbeitskollegin im Büro bei anstehenden Projekten. Ich freue mich bereits im nächsten Jahr auch einen Tanz- und Gymnastikkurs anzubieten.

Da sich das Centro Cívico por la Paz in einem Viertel befindet, wo Gewalt, Diskriminierung, Drogen und Kriminalität sehr präsent sind, ist das Centro Cívico por la Paz von Security bewacht und von einem hohen Zaun umrandet…

Mein Arbeitstag

20 Meter von meinem costa ricanischen Zuhause entfernt, trete ich durch das hohe Tor meiner Einsatzstelle hindurch. Werfe ein kurzes „buenos días“ oder „buenos tardes“ den Wärtern zu, einigen bekannten Gesichtern ein „hola“, begrüße die Putzfrauen mit einem „Cómo está?“, die dabei sind, die zu Gänge putzen und hole meine Sachen aus dem Schrank. Schlüssel bei den Wärtern abgeholt, begebe ich mich in das Zimmer, in dem ich normalerweise sechsmal pro Woche Nachhilfe gebe.

Heute sitze ich aber nicht vor einem Tisch mit Arbeitsblättern, von mir vorbereiteten Spielen und hinter der mit einem „Willkommen“ beschrifteten Tafel – sondern breite Bastelsachen auf den Tischen aus. Seit letzter Woche haben die Ticos, so nennen sich die Einheimischen, Sommerferien. – Nicht durcheinander kommen – hier heißen die Weihnachtsferien aufgrund der heißeren Trockenzeit Sommerferien, welche auch das Ende des Schuljahres markieren. Für die Ticos bedeuten Ferien: Ausschlafen – Entspannen – Faul sein.– Für mich und das Projekt bedeutet es: weniger Besucher und Schüler, die den Unterricht und die Angebote des Projektes wahrnehmen. Heute habe ich aber Glück. Nach nur ein paar Minuten trudeln einige Kinder ein. Diese „paar“ Minuten dehnen sich des Öfteren hier auf eine halbe Stunde aus – Pünktlichkeit nehmen die Ticos nicht so ernst – ganz nach dem Lebensmotto „pura vida“ der Ticos. In den nächsten drei Stunden werden Bäume mit Papierkugeln geschmückt. Ein Seufzer ausgestoßen, wenn der Kleber auf der falschen Seite der Zacke des Papiersternes gelandet ist und mit der Zunge zwischen den Zähnen konzentriert ein Weihnachtsgruß an Mamá und Papá geschrieben. Schließlich verabschiede ich die Kinder, welche glücklich und bepackt mit ihren 3D-Papiersternen, ihren buntbemalten Weihnachtsbäumen und ihren Weihnachtskarten den Raum verlassen. Hier und da habe ich auch eine Umarmung von den Kleinen bekommen. Ein wohliges Gefühl breitet sich bei mir aus, wenn ich gedrückt werde und beobachte wie die Kinder stolz ihren Eltern ihre Basteleien zeigen.

Neben den Bastelstunden mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, ist die Weihnachtszeit hier geprägt von blickenden Lichterketten, die die Häuser schmücken und von lauter Weihnachtsmusik, die aus den Läden schallt. Anstatt dem Geruch von frisch gebackenen Keksen, erschnuppert man den Geruch von Tamales, wenn man die Häuser betritt. Tamales sind – mit einer Masse aus Fleisch, Reis, Kartoffeln, Getreidemischung und Gewürzen – gefüllte Bananenblätter. Von Haus zu Haus, von Land zu Land (in Guatemala, woher meine Gastmama kommt, gehören Tamales auch zu den Weihnachtstraditionen) variieren die Zutaten. Überall werden sie verkauft, hergestellt und verspeist.

Weihnachten in Costa Rica

Heiligabend werde ich mit meiner Gastfamilie verbringen. Gemeinsam mit meinen vier bereits erwachsenen Gastgeschwistern, werden wir eine costa ricanische Weihnachtstradition zelebrieren: „amigos secretos“ – letztendlich vergleichbar mit dem in Deutschland bekannten Wichteln.

Was mir sicherlich ein wenig fehlen wird, ist der weihnachtliche Gottesdienst an Heilig Abend. Dieser findet nicht am 24. statt, sondern in der Kirche (in welcher meine Gasteltern Pastoren sind) bereits am Sonntag vor Heilig Abend. Das liegt daran, dass der Großteil der Kirchenmitglieder aus Nicaragua stammen, und so über Weihnachten ihr Familie in ihrem Heimatland besuchen. Am letzten Sonntag wurde ein Fest für die Kinder der Kirche und anderen aus dem Viertel veranstaltet. Dabei wurden neben Essen auch Geschenke und Süßigkeiten an die Kinder verteilt, welche davor gesammelt wurden. An die Kinder wird in der Kirche jeden Sonntag Mittagsessen ausgegeben, da sich die Familien dieses oft nicht leisten können.

Geschweige von Weihnachtsgeschenken, weshalb sich die Kinder sehr über die Geschenke gefreut haben. Diese Realitäten der Menschen hier in dem Viertel von Heredia, bringt einen sehr zum Nachdenken über das Konsumverhalten vieler Menschen, den Wert von materiellen Dingen, über Wertschätzung, Dankbarkeit und viele andere Themen.Im Gegensatz zu dem „Weihnachtsdekorationswahnsinns“ vieler Ticos, der bereits ab Ende Oktober beginnt, hat meine Gastmama erst am 3. Advent, begonnen das Haus zu schmücken – ohne Weihnachtsbaum.

Weihnachtsbäume und Schneeflocken

Grundsätzlich gibt es in vielen costa ricanischen Haushalten Weihnachtsbäume in der Weihnachtszeit. Neben aus Kanada importierten echten Tannen werden hier des Öfteren Weihnachtsbäume aus Plastik aufgestellt.Und übrigens: Schnee gibt es auch!! – Überall sieht man Schneeflocken glitzern: schneebedeckte Tannebäume, Schneeflockengirlanden in den Häusern, Weihnachtskarten mit eingeschneiten Dörfern – anscheinend wurde der Schnee aus anderen kälteren Ländern importiert…

Letztendlich würde auch ein Weihnachtsbaum nicht unbedingt ein weihnachtliches Gefühl bei mir hervorrufen – was mir hier bei kurzen Hosen, exotischen Früchten, Sommertemperaturen und ohne traditionellen Weihnachtsmarktbesuch mit heißem Glühwein und dampfenden Maronen, sehr schwerfällt.

Auch wenn mir in der Weihnachtszeit die Nähe meiner Familie und meiner Verwandten fehlt, kann ich letztendlich auf die Frage: … „Und jetzt? Wie geht es dir?“ antworten: – Jetzt geht es mir in diesem Moment wirklich sehr gut. – Sicher ist, dass ich hier erstmal noch länger bleiben und noch viele weitere Achterbahnfahrten erleben möchte! Lust habe ich immer auf die Achterbahnfahrt.

Und die Lust wird mir erstmal auch nicht vergehen.

Liebe Grüße aus dem weihnachtlichwarmen Costa Rica!

Eure Sophia