HEIMKOMMEN

22. August 2023   |   Autorin: Tamara

HEIMKOMMEN

Und dann steht die Sonne plötzlich wieder im Süden und der Mond nimmt wieder von der richtigen Seite zu und ab. Wo ich vor einigen Tagen noch umgeben war von Regenwald, singenden Vögeln, fiependen Insekten und den bellenden Hunden auf den Straßen, dieser unglaublichen Biodiversität und all den Menschen, welche mich in den letzten Monaten begleitet haben, finde ich mich nun zwischen all dem fremden Bekannten wieder. Denn ich bin wieder in Deutschland, bin wieder „daheim“, bin wieder umgeben von all dem, was ich vor Monaten zurückgelassen habe, um meinen eigenen Weg zu gehen, fernab von meiner Familie, von meinen Freunden, von all dem Bekannten, um ein Abenteuer zu erleben, um neues zu sehen, um über mich selbst hinauszuwachsen, um zu leben. Und jetzt stehe ich an demselben Ort, wie vor einem halben Jahr als alles begann und erinnere mich an den Anfang zurück.

Ich stehe am Flughafen mit meinen Koffern, kurz vor dem Sicherheitsbereich und verabschiede mich von meiner Familie, das Herz so schwer, die Tränen laufen, und doch setze ich einen Schritt vor den anderen und mache mich schweren Herzens auf den Weg in das ferne, noch so unbekannte Peru. Ich habe nicht viel dabei, ein paar vereinzelte Worte Spanisch und ein kleines Päckchen Mut, welches mir in den kommenden Monaten so einige Male weiterhelfen wird.
Ich komme in Lima an, fühle mich sofort unwohl in dieser riesigen Stadt, der Verkehr ist so unübersichtlich, alles so groß und laut und erdrückend, so unfassbar fremd und weit weg von all dem Bekannten, von allem, an dem ich mich normalerweise festhalten würde. Doch hier bin ich zunächst allein. Ich verstehe die Sprache nicht, versuche mich mit Google-Übersetzter vom Flughafen zum Hostel durchzuschlagen, wo ich auf die anderen Freiwilligen treffe. Schon in den ersten Tagen in Lima verstehen wir uns blendend und wachsen schon bald nicht nur zu einem guten Team, sondern zu einer Familie zusammen, die sich gegenseitig Halt gibt und sich anspornt und immer ein offenes Ohr für den anderen hat.

Nach einigen ungewissen Tagen in Lima, vielen Telefonaten nach Hause, vielen Zweifeln, ob es die richtige Entscheidung gewesen ist, mich von meinen Füßen durch die Sicherheitskontrolle tragen zu lassen und nicht vorher kehrtzumachen und mich nicht auf all das hier, das Fremde und Ungewisse einzulassen, geht die Reise endlich weiter, ins ruhige Villa Rica, wo ich mich ab der ersten Sekunde so unfassbar wohl und aufgehoben fühle. Die Ankunft lässt viele meiner Zweifel, meiner Sorgen und Ängste verfliegen und weckt die Neugierde, die Aufregung, die Abenteuerlust in mir. Mit offenen Armen werden wir herzlichst empfangen, treffen auf eine weitere Freiwillige, auf unsere Chefin und Programleiterin und viele weitere Mitarbeitende und lernen das ganze Team ATIYCUY kennen. Natürlich ist es zu Beginn ein wenig überfordernd auf so viele fremde Gesichter zu treffen, die mich kennenlernen wollen, die mir Fragen stellen, zu meiner Familie, meinen Hobbies, meinen Lieblingsessen, doch mein Spanisch gibt zu diesem Zeitpunkt leider nicht viel mehr her als „Hola, me llamo Tamara y tengo 19 anos“.
Aus diesem Grund können wir in den ersten Wochen leider nicht sofort mit der Arbeit im Projekt starten, sondern machen uns erst einmal daran, unser Spanisch zu verbessern und die Sprachbarriere zu überwinden. Stück für Stück werden wir immer mehr ein Teil vom Team und der Familie ATIYCUY. Nach den ersten Wochen der Eingewöhnungsphase wurden wir unseren Projekten zugeteilt. Josua und Lara, zwei meiner Mitfreiwilligen, werden dem Kinderpatenprogramm ANNA und dem Kulturerhaltungsprogramm REYA zugeteilt, während ich neues Mitglied im Umwelterziehungsprogramm EDA werde.

Das Programm EDA

EDA kümmert sich vor allem darum, Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Villa Rica, den Centros Poblados und den Comunidades einiges zu verschiedenen Themen, welche die Umwelt betreffen, beizubringen. Beispielsweise werden verschiedene Workshops zu Themen wie Nachhaltigkeit, Kohlenstoffkreislauf, Rechte bei Verkauf von Holz und anderen Ressourcen, Ökosystemdienstleistungen, der Weg des Wassers und vieles mehr durchgenommen.
Alle Abläufe und Aufgaben des Programms auf Spanisch erklärt zu bekommen ist zu diesem Zeitpunkt zwar immer noch nicht ganz einfach, aber mit Nachfragen und selbstständigem Kombinieren kann ich doch einiges verstehen und von Anfang an viele Aufgaben und Verantwortung übernehmen. Ich versuche mich im Team einzubringen und meinen Koordinator Beder und Julio, seine Assistenten, bei ihrer Arbeit bestmöglich zu unterstützen. Von der Vorbereitung des Materials für die Workshops, über administrative Aufgaben im Büro, der Planung von Kostenvoranschlägen bis zur Dokumentation von Workshops bin ich für jede Arbeit, die anfällt, zur Stelle und darf meine eigenen Ideen und Vorstellungen stets in unsere Arbeit einfließen lassen.
Die ersten Ausflüge in die Comunidades stehen auch schon früh an. Tief im Regenwald darf ich auf Yanesha Dörfer treffen, mit welchen wir zusammenarbeiten, darf ihre Kultur näher kennenlernen, erfahren, wie sie vom Wald leben und wie der Wald sie mit allem versorgt, was sie für ihr Leben benötigen. Ich fühle mich ein weiteres Mal mit offenen Armen in Empfang genommen, bin fasziniert von der Lebensweise der Yanesha und denke viel über mein eigenes Leben nach.
Die Tage und Wochen und Monate streichen ins Land und ziehen nur so an mir vorbei. Ich finde mich wieder, wie ich durch die befahrenen Straßen Villa Ricas spaziere und den Trubel um mich herum genieße. Der Verkehr, ein einziges Chaos, lautes Hupen übertönt die Motorgeräusche. Ich treffe auf bekannte Gesichter, grüße im Vorbeigehen und fühle mich wohl in den mittlerweile so bekannten Straßen und Gassen. Ich lerne, mir durch einen Spaziergang oder eine Laufeinheit einen Ausgleich zu dem sonst so stressigen Arbeitsalltag zu schaffen, etwas abzuschalten und mich von den Geräuschen, vom Trubel um mich herum und von dem, was ich ganz tief in mir fühle und empfinde, tragen zu lassen.

Aller Anfang ist schwer

Am Anfang fällt es mir aber trotzdem schwer, mich auf all das hier einzulassen. Ich möchte nichts davon in mich aufnehmen, möchte viel eher zurück in mein deutsches Umfeld, das von Ruhe und Stille geprägt ist und vielleicht ein wenig Hektik. Doch Ruhe und Stille habe ich im Regenwald ironischerweise nie gefunden. Es dauert eine Weile und verlangt mir ein wenig Mut ab, bis ich mich schließlich für all das hier öffnen kann, bis ich trotz der Hektik um mich herum, Ruhe in mir selbst finden kann, und daneben ein ganzes Stück Zufriedenheit und Glück.

Erinnerungen

Mit der Zeit darf ich lernen, dass je mehr ich mich öffne, je mehr ich selbst danach trachte, Neues zu entdecken und Unbekanntes zu erforschen, desto mehr Möglichkeiten eröffnen sich mir auch. Und so darf ich mich heute an Wochenenden erinnern, die ich mit den anderen Freiwilligen in der indigenen Gemeinschaft San Geronimo verbringen konnte, mit den Comuneros, welche ich mittlerweile meine Freund:innen nennen darf. Sie luden uns immer wieder zu sich ein, um uns ihr Zuhause, ihren Wald und ihre Traditionen zu zeigen und nahmen uns mit auf Geburtstage. Über jede Frage, die wir ihnen zu ihrem Leben und ihrer Kultur stellten, freuten sie sich unfassbar.
Auch darf ich mich an stundenlange Bootsfahrten über dem Amazonas zurückerinnern, als wir in einem Boot saßen, das einen Meter lang und vier Meter breit war und das eher den Anschein machte, jeden Moment zu versinken, als uns trocken und sicher ans andere Ufer zu bringen.
Der Himmel fing langsam an, sich rosa zu färben und die Bäume am Flussufer spiegelten sich in dem fast schwarzen Wasser dieses riesigen Flusses, als ganz plötzlich direkt neben unserem Boot, ein Delfin aus dem Wasser schoss und schon im nächsten Augenblick mit einem leisen Klatschen wieder unter der Wasseroberfläche verschwand. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, als plötzlich aus allen Richtungen unzählige Delfine aus dem Wasser schossen und unser Boot bedrohlich zum schwanken brachten, aber das war in diesem Augenblick nebensächlich. Der Moment schien nahezu perfekt. Die Delfine begleiteten uns ein kleines Stück auf unserem Weg über den schwarzen Fluss, doch so schnell sie alle erschienen sind, so schnell verschwanden sie auch wieder.
Es ist unfassbar, wie sehr all diese Erinnerungen mein Herz zum Leuchten bringen und die Sehnsucht in mir wecken, die Zeit zurückzudrehen, um all das noch einmal erleben zu dürfen.

Nach Monaten des Suchens und Findens, des Aufbrechens und Ankommens, des Lernens und Wachstums, des Festhaltens und Loslassens und der neuen Erfahrungen, des Scheiterns und der Wagnis, nach einem halben Jahr hieß es dann schon wieder Abschied zu nehmen.

Zuhause

Und dann verlasse ich mein Zuhause um Nachhause zu fliegen und irgendwo zwischen losfliegen und ankommen erkenne ich, dass Zuhause, nicht unbedingt ein Ort mit vier kahlen Wänden sein muss, sondern viel eher eine Umgebung, in der sich mein Herz geborgen fühlt, bei Menschen, die mich zum Lachen bringen, denen ich vertrauen darf, die mich annehmen, wie ich bin, bei denen ich sein darf, wer ich bin. Und da spielt es doch gar keine Rolle, welche Sprache diese Menschen sprechen, aus welchen Völkern sie stammen und welche Kultur sie leben, da ist es doch ganz egal, ob sie in den tropischen Regenwäldern des höher gelegenen Regenwaldes oder den einfachen Mischwäldern des Voralpenlandes leben, denn da, wo sich das Herz wohlfühlt, da haben Grenzen und Distanz keinen Wert mehr denn dort siegen Respekt, Vertrauen und Freundschaft.
Und jetzt, wo die Sonne nicht mehr im Norden, sondern im Süden steht, da wiegt die Erinnerung plötzlich so viel. Da schwebt die Dankbarkeit ganz nah an meinem Sein und begleitet mich jeden Tag aufs Neue. Denn ich durfte Delfine aus der Nähe sehen, bewunderte Baby-Krokodile auf meinen eigenen Händen und beobachtete Pinguine, wie sie im Meer mit den Wellen spielten. Ich bin fast auf Schlangen getreten und habe gelernt, mit Pfeil und Bogen zu schießen, habe mich unter Wasserfällen geduscht und in Flüssen gebadet, führte Diskussionen über Homosexualität und vegetarischer Ernährung, tanzte bis spät in die Nacht mit Comuneros zu Salsa und Cumbia und verlief mich auf über 4000 Höhenmetern irgendwo in den Anden Perus. Ich habe Flamingos auf den Hochebenen entdeckt und Faultiere, die von den Bäumen hingen, habe den besten Kaffee meines Lebens getrunken, bin über Ananas Monokulturen gelaufen und habe nachts die unzähligen Sterne am Himmel bewundert.
Ich durfte so viel erleben, so viel mitnehmen, Gutes wie weniger Gutes und all das hat mich womöglich mehr geprägt, als ich es in diesem Augenblick erkenne. Ich bin dankbar für jeden Moment in diesem nun nicht mehr ganz so unbekannten Peru, das sich irgendwann, irgendwo, irgendwie seinen Weg in mein Herz geschlichen hat.

Und wer weiß, vielleicht führe ich eines Tages meine Entdeckungstouren im Land der Kartoffeln und roten Vögel weiter, doch bis dahin führe ich mein Abenteuer weiter. Das Abenteuer Leben.

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