Ein Tag in meinem peruanischen Zuhause

23. Juni 2023   |   Autorin: Tamara

Ein Tag in meinem peruanischen Zuhause

5.30 Uhr, der laufende Motor eines Autos reißt mich aus dem Schlaf. Kurz darauf höre ich die Haustürklingel. Ich ignoriere sie gekonnt und hoffe noch im Halbschlaf, dass sich schon jemand erbarmen wird aus dem Bett zu kriechen, um die Tür zu öffnen.  Bevor mein schlechtes Gewissen beginnt mich noch im Schlaf zu plagen, höre ich, wie die Haustür mit einem lauten Klickgeräusch aufspringt. „Gracias Fenja, Gracias!“ bedanken sich die Stimmen. Kurz lausche ich dem Gewusel und den Stimmen im Büro unter mir, höre wie noch in letzter Eile der Drucker betätigt und Materialien zusammengesucht werden, bevor das Haustürschloss noch einmal laut klickt und die Stimmen, gemeinsam mit dem lauten Motorengeräusch, in der Ferne verschwinden.
Eines der Programme hat sich wohl gerade in aller Früh, auf den Weg zu einem der Yanesha Dörfer gemacht, um dort einen Workshop oder ähnliches mit den Comuneros, also den Dorfbewohner:innen durchzuführen. Ich genieße in diesem Moment aber die Gewissheit, noch ein paar Stunden schlafen zu können, bevor mein Wecker mich unermüdlich aus dem Schlaf klingeln wird.

7.30 Uhr, mein Handy vibriert und versucht, mich mit diesen unangenehmen Geräuschen zu wecken. Verschlafen strecke ich meinen Arm danach aus und drücke ohne weiter darüber nachzudenken die Schlummertaste. Weitere 10 Minuten später versucht es mein Handy nochmals. Diesmal mit mehr Erfolg. Immer noch verschlafen und benebelt vom Traum, steige ich vorsichtig meine Hochbettleiter hinunter. Mein Fuß rutscht ab und ich kann mich im letzten Moment noch fangen, bevor mir der Boden immer näherkommt. Dieser kleine Schock am Morgen reißt mich vollends aus meiner Traumwelt und bringt mich in die Realität dieses heutigen Tages.

Ich richte mich kurz im Bad und dann folgt auch schon der morgendliche Besuch in der Küche bei Lindy, die schon fleißig damit beschäftigt ist, das Frühstück herzurichten. „Buenas Días, Tamara“, begrüßt mich ihre freudige Stimme. „¿Podrías ir a comprar el pan?“, frägt sie mich. Keine 2 Minuten später mache ich mich auch schon auf den Weg zur nächsten Bäckerei, um Semmeln für das Frühstück zu holen. Von der ruhigen Nebenstraße, in welcher sich das Casa ATIYCUY befindet, wechsele ich auf die am nächsten gelegene Hauptstraße. Der Lärm und das Chaos, die vielen Autos und Mototaxis treiben den letzten Rest Müdigkeit aus mir heraus. Nach dem Besuch bei der Bäckerei schaue ich auf dem Rückweg noch bei einem Gemüsestand vorbei, um zwei Avocados zu kaufen, wie Lindy es mir aufgetragen hat. Die Verkäuferin erkennt mich schon von Weitem und bringt mir ihr strahlendes Lächeln entgegen, als ich mich ihrem Stand nähere. „¿Cuántos paltas quieres?“, fragt sie mich, wohlwissend, dass ich für die Avocados hier bin. Ich unterhalte mich kurz mit ihr und setze kurz darauf, mit Avocados im Gepäck, meinen Rückweg fort. Wie schön es doch ist, immer mehr ein Teil von diesem fremden Ort zu werden, einst so fremde Gesichter auf der Straße wiederzuerkennen und selbst erkannt zu werden, denke ich mir. Wieder zurück sitzen die anderen Freiwilligen sowie ein paar der Mitarbeiter:innen schon am Tisch und haben bereits mit dem Frühstücken begonnen.

8.30 Uhr (oder eher 9.00 Uhr) Vom Frühstückstisch mache ich mich auf den Weg ins Büro, starte den Computer, checke E-Mails und übernehme schon mal ein paar morgendliche Aufgaben, während ich auf meinen Projektkoordinator Beder warte. Nach seinem Eintreffen informiere ich mich darüber, was denn heute alles so ansteht und welche Aufgaben mir zu Teil werden. Beder nimmt sich ein Blatt zur Hand und schreibt, oder wohl eher skizziert auf, was heute alles zu erledigen ist. Ob ich das alles später noch entziffern kann, steht aktuell noch in den Sternen, aber mit diesem Problem kann sich mein Zukunfts–Ich in zwei Stunden befassen. Mein aktuelles Ich macht sich erst einmal daran, alle Belege und Kassenzettel der letzten Woche zu sammeln, zu überarbeiten und die Ausgaben mit Bildern zu belegen. Daraufhin wechsele ich vom Computer auf meinen Laptop und beginne, die Präsentation für den Club Ecológico, der sich am Samstag wie jede Woche im Casa ATIYCUY treffen wird, vorzubereiten. Diese Woche sprechen wir über „Pérdida del bosque y el calentamiento global“, das heißt, wir bringen den Jugendlichen aus Villa Rica und dem nahe gelegenen Dorf Ñagazu etwas über den Zusammenhang zwischen Waldverlust und Klimawandel bei. Die Zeit fliegt nur so dahin, die vormittägliche Müdigkeit, welche vor kurzem noch in der Luft hing, wird von dem Duft des Mittagessens vertrieben. Was hat Lindy wohl heute leckeres gezaubert? Salsa de Maní vielleicht? Ein Blick in die Küche verrät mir, dass ich falsch liege, aber zu Falafel mit Reis und den verschiedensten Soßen sage ich auch nicht nein.

„Come, come!“ fordert mich unsere Chefin Eli auf, mir einen Nachschlag von dem Essen zu nehmen. „No gracias, tengo buchisappa“, gebe ich wohlgesättigt zurück, bevor ich mich kurz darauf auf die Suche nach etwas Ruhe mache. Eine Tasse Kaffee, ein bequemer Sessel und die Aussicht auf verschiedenste Vogelarten, welche munter zwitschernd von Ast zu Ast hüpfen. Für einen kurzen Moment des Tages halte ich den Atem an und genieße die Stille. Kein Gewusel um mich herum, keine Unterhaltungen, kein Druck erreichbar und einsatzfähig sein zu müssen. In dieser Minute muss ich nicht für jede Situation gewappnet sein. Es gibt kein Chaos, nur mich und die Ruhe um mich herum, die hin und wieder von dem Bellen der Hunde durchbrochen wird.
Ich atme durch, nehme einen Schluck meines Kaffees und vergesse für einen Augenblick den Stress und die Arbeit. Eine Nachricht nach Hause oder ein kurzer Anruf helfen mir in diesem Moment abzuschalten und neue Kraft zu tanken, die ich für den Nachmittag vermutlich noch brauchen werde.

Das Ende der Ruhe

Mit dem schwindenden Inhalt meiner Tasse nimmt auch diese einzigartige Ruhe ein Ende und die Arbeitswelt holt mich ein. Noch bevor ich mich von der Stille verabschieden kann, finde ich mich schon vor meinem Laptop wieder, an der Präsentation arbeitend, wie zuvor. In Gedanken vertieft, tippe ich auf meiner Tastatur als Beder mir beim Vorbeigehen zuruft, dass er gleich eine Reunión, also ein geschäftliches Treffen habe, welches bereits begonnen hat.
Ich springe auf und eile, um eine Teilnehmerliste auszudrucken und die nötigen Unterlagen und Materialien zusammenzusuchen, während Beder noch seine PowerPoint Präsentation fertigstellt. Alles geht durcheinander, ich bekomme immer wieder eine neue Anweisung, was noch benötigt wird.
Sind die Listen ausgedruckt? Ist die Kamera geladen? Wo ist die denn überhaupt? Und hat sie noch genug Speicherplatz? Hast du das Format für die Sachspenden vorbereitet? Ist die Hinfahrt überhaupt im Kostenvoranschlag eingetragen? Hast du die Festplatte irgendwo gesehen? Die Fragen überschlagen sich. Minuten aus Stress und Chaos beginnen, während ich nach den Dingen suche und nichts davon finde. Kurz muss ich das alles über mich ergehen lassen. Am Ende stelle ich meistens aber doch fest, dass ich an alles gedacht habe. Ich komme sogar rechtzeitig zum Treffen, obwohl dieses schon vor über einer Stunde begonnen hat.

5 Minuten später fällt die Haustür laut klickend ins Schloss. So plötzlich wie das Durcheinander gekommen ist, hört es auch schon wieder auf und ich fahre mit meiner Arbeit fort. Später am Nachmittag speichere ich die fertige Präsentation ab und fange schon einmal damit an, Teilnehmerlisten einzuscannen und dem richtigen Ordner zuzuordnen, um zu verhindern, dass sich die Arbeit am Ende des Monats anhäuft und ich und mein Team in einem riesigem Haufen Chaos versinken. Je später es wird, desto leerer wird das Büro und die lang ersehnte Ruhe kehrt langsam wieder ein.

19.00 Uhr, der in der Luft schwebende Duft nach dem Abendessen lässt mich meinen Laptop zuklappen und den Computer herunterfahren. Ich sortiere noch kurz ein paar Listen und Dokumente, bevor mich mein knurrender Magen in die Küche führt. Tallerines rojos hat Lindy dieses Mal gezaubert. Ich nehme mir einen großen Schöpfer der Spaghetti und kippe eine unfassbar leckere Soße darauf. Ich geselle mich zu den anderen Freiwilligen auf die überdachte Terrasse und wir lassen uns das Essen schmecken, während wir einander von unserem Tag berichten, uns austauschen und uns, wie so oft, stundenlang verquatschen, da wir von einem Gesprächsthema zum anderen hüpfen. Ein Blick auf die Uhr verrät uns, dass es Zeit für die Hora ist.

Um 20.05 Uhr findet unsere tägliche Sportrunde statt, die heute, wie fast jeden Tag, mindestens zwei Stunden im Verzug ist. Das Bett und die aufkommende Müdigkeit müssen also noch einen Moment warten und werden im nächsten Moment aus meinen Gedanken vertrieben, als ich mich an die 40 täglichen Liegestütze mache, gefolgt von verschiedensten Dehnungen, die eines Tages mal zu einem Spagat führen sollen. Meine Gelenkigkeit, welche der eines Baumes gleicht, lässt mich zwar an diesem Ziel zweifeln, aber was soll‘s, vielleicht geschieht ja eines Tages noch ein Wunder…?

 

22.30 Uhr, mit müden Schritten mache ich mich auf den Weg in mein Zimmer.
K.O. und ausgelaugt von dem Tag, der vielen Arbeit, welche oft sehr anstrengend ist und dennoch viel Spaß macht, dem ständigen Spanisch sprechen, dem Durcheinander, der konstanten Konzentration und zuletzt noch der Sporteinheit, setze ich müde einen Schritt vor den anderen, bis ich endlich im Zimmer stehe und mich für das Bett fertigmache. Ich klettere die Hochbettleiter hoch und lege mich ins Bett und kuschle mich in meine vier Decken ein. Müde und fertig, dennoch aber glücklich und zufrieden, liege ich hier und lasse den Tag noch einmal n meinen Gedanken ablaufen.
Langsam schließe ich meine Augen, dankbar, dass ich hier, so fern von daheim, ein peruanisches Zuhause und eine peruanische Familie finden durfte, welche zwar oft etwas chaotisch und durcheinander ist, aber in jedem Moment füreinander da ist und aufeinander aufpasst. Eine Familie, in welcher jeder sein darf, wer er ist und mit seinem Können, seinen Ideen und der Hilfe von anderen, seinen eigenen Beitrag leisten darf, der zum großen Ganzen beiträgt und ohne welchen diese Familie wohl nicht bestehen würde. Bevor ich mich noch einmal vergewissern kann, einen Wecker für morgen gestellt zu haben, überkommt mich auch schon der Schlaf, von welchem ich mich erschöpft und dennoch glücklich in die Traumwelt entführen lasse, bis mich die Haustürklingel vermutlich wieder aus dem Schlaf reißen wird.

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