Zwei Frauen, Zwei Leben, ein Land: Costa Rica

7. Dezember 2022   |   Autor:in Theresa

Zwei Frauen, Zwei Leben, ein Land: Costa Rica

In meinen bisherigen Newslettern habe ich hauptsächlich über mich und mein Leben als Freiwillige in Costa Rica geschrieben. Ich habe euch von meinen Reisen, meiner Arbeit und anderweitigen Erfahrungen berichtet. In diesem Newsletter möchte ich aber das Gegenteil tun. Wie ist es eigentlich, in Costa Rica aufzuwachsen und zu leben? Da diese Frage natürlich nicht pauschal beantwortet werden kann, habe ich mich dazu entschieden, beispielhaft zwei Geschichten von zwei unterschiedlichen Frauen zu erzählen. Die eine ist die von Estefania (20), meiner Arbeitskollegin, die andere die von María (16), meiner Nachbarin.

Estefanias Geschichte

Um die Geschichte Estefanias besser verstehen und nachvollziehen zu können, ist es erst einmal wichtig zu wissen, dass Costa Rica durch seine zentrale Lage innerhalb Mittelamerikas und seiner vergleichsweise hohen Sicherheit von Migration geprägt ist. So kamen bereits früh Migranten aus dem Norden, vor allem aus Nicaragua. Dies hat sich in den letzten Jahren verstärkt. Im Jahr 2018 kam es in Nicaragua zu landesweiten Unruhen, weshalb viele Menschen nach Costa Rica flüchten mussten. Zwei Jahre später flohen fast zehntausend Menschen aus Nicaragua nach Costa Rica, was bei fünf Millionen Einwohnern nicht unerheblich ist.
In La Milpa, dem Stattteil von Heredia, in dem sich mein Projekt befindet, lebt Estefania mit ihrer Familie. Sie kam vor vielen Jahren, als sie selbst noch ganz jung war aus Nicaragua nach Costa Rica. Ihre Mutter konnte in ihrer Heimat keine Arbeit finden und so ihr Leben dort nicht mehr finanzieren. Als die Familie in Costa Rica ankam, baute sie sich illegal eine Blechhütte, in der sie noch heute mit sieben Familienmitgliedern lebt, zu denen neben Estefanias Eltern auch noch ihre drei Geschwister und ihre beiden Großeltern gehören. Allerdings besitzen sie weder Stühle noch einen Tisch oder ein Sofa. Lediglich ein paar Betten und einen Kleiderschrank konnten sie in die Hütte stellen. Estefania ist, als das älteste Kind, für alle Lebensbereiche verantwortlich. Sie muss sich um ihre Geschwister kümmern und täglich das Essen auf den Tisch bringen, wobei allein das Kochen bis zu vier Stunden dauern kann. Zusätzlich begleitet sie ihre Großmutter zu Arztterminen, da diese an Krebs erkrankt ist.

Es gibt viele solcher Familien, die illegal in Costa Rica leben, da es sehr schwer und sehr teuer ist, die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Aus diesem Grund finden viele Migranten keinen richtigen Job. Auch das Recht zu studieren, ist an die Staatsbürgerschaft gekoppelt. Estefania würde gerne Grundschullehrerin werden, da sie aber noch keine Staatsbürgerschaft besitzt, darf sie das erst einmal nicht. Solange arbeitet sie freiwillig in dem „Refugio“, in dem Programm in dem auch ihre Geschwister aufgenommen worden sind. Estefania und ihre kleinen Geschwister haben dort die Gelegenheit, Perspektiven für ihr späteres Leben zu entwickeln.

Das Schicksal anderer Kinder

Dennoch gibt es viele Kinder, die dieses Privileg nicht haben. Denn obwohl die Kinder in die Schule gehen könnten, sind ihre Eltern oftmals aufgrund psychischer Erkrankungen oder einer Drogenabhängigkeit nicht dazu in der Lage, ihre Kinder regelmäßig in die Schule zu schicken. Daher verbringen die Kinder oft den ganzen Tag auf der Straße. Sie lernen zu stehlen, müssen sich häufig unter Anwendung von Gewalt behaupten und geraten auf diese Weise schnell in ein kriminelles Milieu. Ihre einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, besteht dann darin, „unter der Hand“ zu arbeiten, was Korruption beinhaltet oder sie gehen in die Selbstständigkeit. Viele verkaufen in diesem Rahmen Lebensmittel oder handgemachte Artikel an den Haustüren.

Der Drogenhandel

Zudem ist der Handel mit Drogen eine sehr lukrative Möglichkeit, schnell an Geld zu kommen. In La Milpa entwickelte sich das über viele Jahre zu einem riesigen Problem. Gerade in bildungsfernen Familien steigt die Drogenabhängigkeitsrate stark an, womit sich der Teufelskreis fortschreibt, in den die Kinder hineingeboren werden.
Denn mit dem Drogenhandel ist eine Gewaltbereitschaft verbunden, die von der Rivalität zwischen den Drogendealern und deren Gangs ausgeht. Sie begehen Überfälle und misshandeln und entführen Kinder. Häufig sind es auch die Eltern, die für ihre Kinder zu einer Gefahr werden, weil sie sich an ihnen vergehen und das schon in frühen Jahren. Bereits Kinder im Vorschulalter müssen dieses Leid und Unrecht ertragen. Für mich ist es schockierend, das mitanzusehen. Doch auch wenn ich diesen Einblick in das Leben der Kinder durch das „Refugio“ bekomme, kann ich sicherlich nicht wirklich nachempfinden, wie es diesen Menschen wirklich gehen muss und wie ausweglos ihre Situation für sie oftmals zu sein scheint.
Nun möchte ich eine ganz andere Art des Lebens in Costa Rica vorstellen, die von deutlich mehr Wohlstand geprägt ist.
 

Marías Geschichte

In einem Alter von zwei Jahren zog María José, meine Nachbarin in das ‚Condominio Rosedal 2‘. Ihre Mutter, Marcia arbeitete damals in der Finanzbranche von Toyota und ihr Vater bei der „Banco Promerica“, einer Bank in Costa Rica. Ihre Eltern sahen hier für ein Kleinkind die Möglichkeit, mit anderen gleichaltrigen Kindern sicher spielen zu können. So ist María in Geborgenheit, Sicherheit und Fürsorge als Einzelkind aufgewachsen. Ich habe ihre Eltern kennengelernt und sie so erlebt, dass sie versuchen, María alles zu ermöglichen, was ihnen als sinnvoll erscheint, was sich sowohl auf ihre Bildung, Reisen oder auch auf Treffen mit Freunden bezieht.

Ein Kind mit Träumen

Heute geht María auf ein privates technisches Gymnasium in die 10.Klasse. Sie träumt davon, später beruflich Erfolg zu haben, sodass sie die ganze Welt bereisen kann. Täglich wird sie von einem Chauffeur, der ein guter Bekannter der Familie ist, zu dem Gymnasium gefahren und wieder abgeholt. Die öffentlichen Busse seien sehr dreckig und gefährlich, sagt mir María. Daraufhin interessiere ich mich dafür, wovor sie im Alltag Angst habe und wo sie für sich persönlich Gefahren sehe. Da erklärt sie mir, dass sie eigentlich gar keinen Gefahren im Alltag ausgesetzt sei, da sie immer mit jemandem zusammen sei und meistens mit dem Auto gefahren werde. Wenn sie aber allein in das Stadtzentrum ginge, hätte sie Angst, dass sie von den anderen angegriffen oder ausgeraubt würde. Sie berichtet mir ebenfalls, dass sie das auch bei Freunden schon hautnah miterlebt habe.

Weil die Schule so anstrengend ist, macht sie daher nach der Schule meistens einen Mittagschlaf. Sie lernt viel, was sich in Form von Bestleistungen auf ihren Zeugnissen widerspiegelt. Wenn aber gerade keine Klausurenphase ist, geht sie zusätzlich noch ins Fitnessstudio.
In ihren Zukunftsplänen und Vorstellungen ist María für ihr Alter schon sehr konkret. Sie würde gerne in der Medizintechnik arbeiten und später eine Familie mit Kindern, am liebsten Zwillinge, gründen. Aber auf gar keinen Fall will sie in Costa Rica bleiben und auch in kein anderes lateinamerikanisches Land ziehen. Als ich nachfrage, warum, sagt sie, dass es immer noch Lateinamerika sei. Stattdessen stellt sie sich vor, in die USA zu ziehen. Sie war schon mehrere Male in den Vereinigten Staaten zu Besuch bei Freunden und Familie. Ich vermute, dass sie dort Möglichkeiten und Perspektiven gesehen hat, die ihr Costa Rica nicht bieten kann.

Armut in den Augen eines Kindes

Ich spreche María auf die Flüchtlingssituation in La Milpa an. Sie sagt mir, dass sie noch nie in La Milpa gewesen sei. Ein wenig später fügt sie jedoch hinzu, dass diese Gegend von sehr viel Armut, kriminellen Überfällen und großen Familien gezeichnet sei. Das ist das, was sie immer wieder höre. Außerdem ist sie der Meinung, dass Geflüchtete, wie jene aus Nicaragua, die mit Papieren ins Land ziehen, gerne bleiben können. Denn die Geflüchteten seien dem Land eine Hilfe, indem sie die Aufgaben machen, zu denen sich sonst keiner bereiterklärt. Die, die allerdings keine Papiere haben, sollten Costa Rica in ihren Augen lieber verlassen, da sie dem Land nicht weiterhelfen würden. Stattdessen seien sie für eine hohe Kriminalitätsrate und die steigende Armut verantwortlich.

Zusammenfassend waren Marías Antworten sehr spannend und interessant für mich. Mich hat nicht überrascht, dass sie sich zu einigen Fragen eher unwissend oder naiv geäußert hat, denn genau das spiegelt wider, dass die Ticos und auch wir Deutschen in unserem Wohlstand leben und uns dabei zu wenig der Privilegien bewusst sind, die wir eigentlich haben.

Abschließend möchte ich anmerken, dass ich Estefania aufgrund ihrer Hartnäckigkeit, die Dinge in La Milpa zu verändern sowie für ihren Kampf, ihre eigenen Träume zu verwirklichen, sehr bewundere. Daneben aber sehe ich auch María, die jeden Tag versucht, die Privilegien, die sie hat, zu nutzen, während sie gleichzeitig versucht, sich als Frau in Costa Rica durchzusetzen.

_____________________________________________________________________

„weltwärts“ ist eine Initiative des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und unterstützt das Interesse von Jugendlichen an freiwilligem Engagement in Entwicklungsländern. Der Großteil der Kosten für das Freiwilligenjahr wird durch den Zuschuss vom BMZ übernommen. Es bleibt jedoch ein Viertel der Gesamtkosten übrig: 3.000 € müssen über VISIONEERS und jedem Freiwilligen selbst gesammelt werden. VISIONEERS ist als unabhängige und gemeinnützige GmbH auf private Spenden angewiesen, um ein umfangreiches und zukunftsfähiges weltwärts-Programm zu ermöglichen.

Helft mir und VISIONEERS, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Bitte unterstützt uns mit einer monatlichen oder einmaligen Spende.

VISIONEERS gGmbH
Berliner Sparkasse
IBAN: DE29 1005 0000 0190 6097 70
BIC: BELADEBEXXX
Betreff: Name + Adresse des Spenders + Freiwilligen

Wir freuen uns jederzeit über Spenden.