Halbzeit: Ein Rückblick auf sechs Monate als Freiwillige in Costa Rica

2. April 2024   |   Jodie und Lonka

10. Februar 2024 – Heute ist ein besonderer Tag für uns Freiwillige der ersten Ausreisegruppe nach Costa Rica – genau sechs Monate sind vergangen, seit unserer Ankunft und unserem Eintauchen in das neue Leben.
Mittlerweile haben wir uns an unser neues Leben, die Kultur und den Alltag hier gewöhnt. Die meisten von uns haben sich gut in die Projekte und Familien eingelebt und konnten schon einige Hürden überwinden. Wir haben bereits viele Orte des Landes bereist und genießen den Ausgleich zur Arbeit im Kinderheim, wenn wir mit unseren Freunden an den Strand fahren und aus Kokosnüssen trinken können. Doch trotz dieser Erfolge sind auch in den letzten drei Monaten immer wieder neue Herausforderungen auf uns zugekommen.

November – Zu dieser Zeit regnet es Tag und Nacht. Mein zweites Paar Schuhe hat sich bereits in den Bächen, die die Straßen runterströmen, aufgelöst. Meine Regenjacke streitet sich täglich mit meinem Regenschirm darüber, wer nun mehr Wasser zu mir durchgelassen hat. Ich habe mich an den warmen Regen gewöhnt, im Gegensatz zu den einheimischen Ticos, die sich jedes Jahr über die Wassermassen beschweren und es so gut wie möglich vermeiden das Haus zu verlassen. Auch die Kinder in unserem Heim, Hogar C.U.N.A, haben noch nie einen Tropfen auf ihrer eigenen Haut gespürt. Wenn der Regen beginnt, suchen sie schreiend und weinend Zuflucht bei den Tias. In Deutschland würde man vielleicht sagen “sie sind doch nicht aus Zucker”, aber hier in Costa Rica lässt sich das nicht so leicht behaupten.
Um sieben Uhr morgens frühstücken die Kinder Pancakes. Um neun Uhr gibt es Obst in Joghurt oder Wackelpudding, weil die Kinder es sonst nicht essen würden. Mittags wird frittierter Reis mit Bohnen gekocht. Um 14 Uhr gibt es Kekse oder anderes süßes Gebäck. Selbstverständlich darf zu keiner der Mahlzeiten der gezuckerte Fruchtsaft, der “Fresco”, fehlen. Wenn man bedenkt, dass die Supermarktpreise für gesunde Lebensmittel wie Gemüse den deutschen Preisen sehr ähnlich sind, obwohl Ticos im Durchschnitt ungefähr viermal weniger verdienen, dann ist das nicht mal so verwunderlich, dass die Kinder hier “aus Zucker sind”. Aber am meisten fehlt uns das deutsche Brot, da es in costa-ricanischen Bäckereien nur das gezuckerte “Pan Dulce” gibt, das vom Geschmack her eher einem Milchbrötchen oder Hefezopf ähnelt.

Dezember – Passend zur Adventszeit machen wir mit dem Heim in diesem Monat mehr Ausflüge als sonst. An diesen Tagen laden wir die Kinder morgens um acht in die vom Heim angemieteten Kleinbusse und lassen die dreckigen und gefährlichen Straßen von San Jose hinter uns. Der Weg führt uns durch die kaputten Straßen, über die verstopften Autobahnen, an Müllhaufen, kaputten Häusern und Obdachlosen vorbei. Wenn wir in die Parklücke fahren, der Motor ausgeht und die Tür vom Wagen aufgeschoben wird, befinden wir uns in einer anderen Welt. Die Häuser sind perlweiß und haben Dachwerke aus Holz und Dachziegeln, durch die es nicht regelmäßig durchregnet. Die Straßenpflaster sind eben und die Bürgersteige frei von Löchern. Die englischen Rasen der Vorgärten sind gepflegt und nicht einzeln umzäunt. Die Pools schimmern uns strahlend türkis entgegen.
Wir können uns glücklich schätzen in eine dieser sogenannten “Gated Communities” eingeladen worden zu sein. Die Menschen, die dort wohnen schließen ihre Haustür nicht ab, müssen ihr Auto nicht in der Garage verstecken und haben auch kein tonnenschweres Tor, das den Innenhof vor bewaffneten Gangmitgliedern schützt. Den meisten Ticos bleibt dieser Luxus vorenthalten, weil die Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Klassen ganz klar durch Zäune und Wächter getrennt sind. Privilegien wie Sicherheit oder gesunde Ernährung lassen sich hier eben nur mit genügend Geld erkaufen.

Januar – Als wir Anfang des Jahres aus dem Urlaub wieder kamen, stand bei uns im Projekt auf einmal alles auf dem Kopf. Innerhalb einer Woche wurden vier Tias, darunter auch die Psychologin als wichtigste Bezugsperson der Kinder, fristlos gekündigt. Die neu eingestellte Psychologin hat dem Stress im Heim nicht mal zwei Wochen standhalten können und ist direkt wieder ersetzt worden. Die Maestra (Grundschullehrerin/Erzieherin) durfte noch ihre Nachfolgerin einarbeiten und musste dann innerhalb von vier Werktagen eine neue Stelle suchen. Der Küchen-Tia wurde gekündigt, um ihr Gehalt für die 27 neu angebrachten Kameras im Heim nutzen zu können. Nicht einmal die Pausenräume bleiben unüberwacht. Der Grund dafür war, dass das Heim in der Vergangenheit bestohlen wurde. Hier kann man abwägen: Ist es für das Heim dramatischer, dass Klopapier und Lebensmittel gestohlen werden? Oder ist das Problem vielleicht, dass die Tias so schlecht verdienen, dass sie es nötig haben, diese lebensnotwendigen Ressourcen mitgehen zu lassen, während sie dabei riskieren ihren Job zu verlieren? Ein Job, bei dem sie 96 Stunden Schichten arbeiten und nur einen Tag die Woche frei bekommen.

Daran versuchen wir uns zu erinnern, wenn wir wieder einmal einen sehr anstrengenden Tag hinter uns hatten, denn eigentlich sind wir so froh darüber hier wirklich gebraucht zu werden. Jede Aufgabe, die wir erfüllen, ist eine Aufgabe weniger für die überarbeiteten Tias. Jedes Kinderlächeln zeigt uns, dass unsere Mühe sich lohnt.

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