Der Wecker klingelt. Ich stehe auf, frühstücke, ziehe mich an und putze mir die Zähne. Ich schlüpfe in meine Birkis und mache mich auf den Weg zur Schule. An der Schule angekommen, stehe ich vor verschlossener Tür. Ich schreibe meiner Chefin. Schnell bekomme ich eine Antwort: „Heute findet eine Lehrerkonferenz statt, weshalb die Schule den ganzen Tag geschlossen bleibt.“ Also laufe ich die 2 Minuten Fußweg zurück und erinnere mich an Deutschland zurück. Waren die Schulkonferenzen nicht immer nach der Schule? Na klar, damit auch ja keine Unterrichtsminute verschwendet wird. Doch hier in Costa Rica ticken die Uhren einfach anders. Dass die Schule aufgrund verschiedener, interessanter Gründe ausfällt, ist keine Seltenheit. Das ist Teil des Pura Vidas. Gewöhnt habe ich mich daran schnell – schwer fiel es mir nicht. Abstrus finde ich es allerdings, dass die Kinder nie Bescheid wissen, wieso die Schule ausfällt und erst recht nicht wann die Ferien beginnen.
Zuhause angekommen überlege ich, wie ich meine freie Zeit nun nutzen kann. Arbeit gibt es immer. Wer mich kennt, weiß dass ich schlecht mit Langeweile und Nichtstun umgehen kann. Ja, ich weiß, dass die Ruhe der Langweile und des Nichtstun wichtig ist, aber ich befinde mich noch im Lernprozess. Glaubt mir, Costa Rica ist der perfekte Ort, um das zu lernen. Dennoch bin ich hier zum Arbeiten. Schließlich will ich meine Zeit als Freiwillige nutzen. Ich freue mich über die gewonnene Zeit und schalte meinen Laptop an. Im Internet suche ich angestrengt nach Basteleien und potenziellem Content für Englischunterricht und Konzentrationsübungen. Ich will vorbereitet sein und durchdachte Aufgaben finden, die den Kindern Spaß machen. Vorbereitung ist gut, Spontaneität ist manchmal besser. Aufgrund der Sprachbarriere muss ich gestehen, dass ich momentan noch die Vorbereitung der Spontanität vorziehe. Anschließend kann ich an meinen Aufgaben für VISIONEERS arbeiten – oder doch lieber einen Blog schreiben und meine Betterplace-Kampagne auf den neusten Stand bringen? Wie zuvor gesagt, Arbeit gibt es immer!
Nach einem kurzen Einblick in mein Arbeitsleben folgt ein etwas informativerer Einblick:
Morgens arbeiten Lina und ich abwechselnd im Kindergarten der Schule oder im Cen-Cinai. Im Kindergarten in der Schule sind die Kinder meist zwischen 4 und 6 Jahre alt. Fokussiert wird sich auf die schulische Vorbereitung der Kinder. Das bedeutet, dass fleißig gebastelt wird, das Alphabet und Zahlen gelernt sowie bereits vereinzelte Englischvokabeln beigebracht werden. Eine Pause, in der sich die Kinder austoben dürfen, gibt es auch. Ich unterstütze die Lehrerin und helfe den Kindern bei ihren Aufgaben. Ebenfalls darf ich Eigeninitiative beweisen, in dem ich beispielsweise eine Englischklasse leite, Bastelideen und verschiedene Aufgaben mitbringe.
Der Cen-Cinai ist eher vergleichbar mit einer Krabbelgruppe, als einem Kindergarten. Die meisten Kinder sind 2-4 Jahre alt. Hier bekommen die Kinder Frühstück und Mittagessen und sollen dabei lernen, wie richtig mit Messer und Gabel gegessen wird. Wobei, eigentlich gibt es nur einen Löffel für die Kinder. Nicht alle Mahlzeiten lassen sich leicht mit einem Löffel essen…. Nach der Mahlzeit wird natürlich das Zähneputzen nicht vergessen. Im Vordergrund stehen Spiel und Spaß. Es wird gesungen, getanzt und die Kinder können sich mit Spielzeugen beschäftigen. Im Innenbereich stehen den Kindern vor allem lernerische Spielzeuge zur Verfügung. Im Außenbereich gibt es Spielzeugfahrzeuge, Bälle, Schaukeln ein Trampolin und noch vieles mehr. Ich bin begeistert von der riesigen Ausstattung, die der Cen-Cinai besitzt.
Ebenfalls finde ich es toll, dass das Thema Nachhaltig im Cen-Cinai eine Rolle spielt. Dazu muss man wissen, dass ausgenommen vom Ökostrom die Costa-Ricaner kaum ein Gefühl für Nachhaltigkeit haben. Ein Meer an Plastiktüten sehe ich jedes Mal beim Einkaufen, und das, obwohl Plastiktüten in Costa Rica eigentlich verboten sind. Trotzdem kommt es nicht selten vor, dass die Menschen mit 20 Plastiktüten aus dem Supermarkt laufen. Produkte im Glas gibt es hier kaum. Alles ist in Plastik verpackt und gefühlt alle Produkte im Regal gehören zu Nestlé. Definitiv gewöhnungsbedürftig für mich. Im Cen-Cinai gehen wir jeden Freitag mit den Kindern an den Strand und sammeln den Müll der Touristen ein. Eine tolle Aktion. Ebenfalls basteln Lina und ich fleißig mit recycelten Materialien. Diese dienen meist als Dekoration. So haben wir beispielsweise aus Klopapierrollen und Flaschenenden Weihnachtsdekoration gebastelt. Generell unterstützen wir die Kindergärtnerin beim Aufpassen und Bespaßen der Kinder sowie beim Aufräumen. Der Küchenmitarbeiterin helfen wir bei der Essensausgabe und beim Abwaschen.
Nach einer Mittagspause geht es mit der Arbeit weiter. Unser eigentliches Projekt „Uno+“ ruft. Es findet vorwiegend nachmittags an 3 Tagen in der Woche und Mittwoch morgens statt. An den übrigen 2 Tagen erledigen wir nachmittags Aufgaben für unsere Organisation VISIONEERS. Meine Aufgabe ist es, einen Newsletter zu verfassen. Mit Uno+ arbeiten wir an drei Standorten. Die Kinder kommen nach der Schule oder zwischen ihren Pausen, um gemeinsam Zeit zu verbringen, Spaß zu haben, zu basteln und zu lernen. Mit dem Projekt wollen wir es den Kindern ermöglichen, eine Beschäftigung abseits von Drogen und Kriminalität, außerhalb der Schulzeit zu haben. Ebenfalls wollen wir Familien entlasten, die aufgrund ihrer Arbeit oder anderweitigen Gründen nur wenig Zeit für ihre Kinder aufbringen sowie nur geringe Unterstützung leisten können.
Da Uno+ mit Hilfe der Kirche in das Leben gerufen wurde, spielt diese eine wesentliche Rolle. Es wird gemeinsam gebetet und durch Bastelaufgaben über die Bibel und Gott gelehrt. Ich bin dankbar, dass die Mitarbeiter für solche Aufgaben verantwortlich sind. Ich würde mich nicht in der Lage fühlen, die Kinder über die Kirche aufzuklären und über die Bibel zu lehren – nicht auf Spanisch, nicht auf Deutsch. Die Beziehung der Menschen in Costa Rica zur Kirche und zu Gott ist anders, als ich es kenne bzw. gewohnt bin. Sie ist stärker, intensiver und abhängiger. Ich habe das Gefühl, dass wir in Deutschland schlicht und einfach lockerer sind. Vielleicht durch die zahlreichen Möglichkeiten und den starken westlichen Einfluss, sowie die freieren Denkweisen, die uns zur Verfügung stehen. Wir hinterfragen mehr und schwören nicht auf alles Gedruckte. Die Traditionen schwinden; wir verändern uns mit der Welt, die sich ständig weiterentwickelt. Hier fühlt es sich manchmal an, als würde die Welt stehen bleiben.
Nichtsdestotrotz können wir die Mitarbeiter tatkräftig unterstützen. Da der Altersunterschied recht groß ist (6-14 Jahre), können wir vor allem den jüngeren Kindern unter die Arme greifen; sei es beim Ausschneiden, Auffädeln oder Aufkleben. Auch unsere eigenen (Bastel-)Ideen können wir einbeziehen und durchführen. Mir fällt auf, dass umso geringer die Sprachbarriere ist, desto wohler ich mich fühle, meine eignen Ideen wahrzunehmen und einzubringen. Gelegentlich geben wir Englischunterricht – diesen leiten wir selbst, da die Mitarbeiter kein Englisch sprechen können. Basteln steht eigentlich immer auf dem Plan. Ob Traumfänger, etliche Weihnachtsbäume, Weihnachtskarten, Weihnachtssterne, Basteln bereitet den Kindern immer eine Freude. Obwohl viele Materialien fehlen (manchmal sogar nur einfache, bunte Blätter), versuchen wir kreativ zu werden und so viele Ideen wie möglich umzusetzen. Bewegungsspiele, die sogenannten „dinámicas“, zaubern den Kindern immer ein Lächeln in das Gesicht. Zudem gehen wir mit den Kindern in den Park und spielen Fußball. Die Costa-Ricaner sind Fußballfanatiker! Auch bieten wir den Kindern an, dass sie ihre Hausaufgaben mitbringen und wir sie dabei unterstützen. Themen wie Liebe, Freundschaft, Familie und Mobbing beziehen wir ebenfalls in das Uno+-Programm ein. Ein paar Kekse oder Bananen und ein Getränk gibt es für die Kinder meistens am Ende. Noch wichtig zu wissen ist, dass wir Freiwilligen als Unterstützung zur Verfügung stehen und keine Arbeitsplätze ersetzen dürfen. Kurz vor Beginn der Weihnachtsferien organisieren wir ein großes Weihnachtsfest für alle Kinder aus den verschiedenen Standorten. Wir hoffen, dass wir den Kindern damit eine große Freude bereiten können.
Nach dem eher informativeren Überblick folgt nun die etwas emotionalere Ebene:
Ich fühle mich sehr wohl mit meiner Arbeit. Ich bin dankbar, dass meine Arbeit durch die verschiedenen Standorte und Einrichtungen abwechslungsreich gestaltet ist. Selbstverständlich gibt es langweilige und spannende Tage. Mein Wunsch war es, dass ich eigene Ideen mit einbringen und verwirklichen kann – dieser Wunsch wurde erfüllt. Ich selbst bin dafür verantwortlich, wie interessant und spaßig meine Arbeit gestaltet ist. Um so mehr Ideen und Eigeninitiative ich einbringe, desto mehr Spaß habe ich an meiner Arbeit und lerne gleichzeitig besser Spanisch. Davon profitieren gleich drei Parteien – die Kinder, meine Kollegen und ich.
Ich hatte bereits viele positive Erfahrungen, aber auch einige schlechte. Ich beginne mit den Schlechten und ende mit den Guten. Ich musste bereits in meiner ersten Woche 2 Stunden lang alleine eine Englischklasse unterrichten. 20 Kinder und eine noch fremde Person vor ihnen. Da war es selbstverständlich, dass sie mir kaum Respekt zeigten. Zudem die zu Beginn noch riesige Sprachbarriere. Erlaubt ist es ebenfalls nicht, dass die Freiwilligen alleine gelassen werden. Lauter schreiende Kinder auf einem Haufen, echt nervig – aber eine Erfahrung wert, aus der man nur lernen kann. Ein Schock für mich war ein Erlebnis im Kindergarten. Auf einem Blatt Papier ein Mädchen und ein Junge. Das Mädchen, ganz klischeehaft, lange Haare, am Fuß die Stöckelschühchen und trägt ein Kleid. Der Junge, ganz klischeehaft, kurze Haare, trägt ein T-Shirt und eine Hose. Die Lehrerin fragt, was der Junge und das Mädchen auf dem Bild tragen und wie sie aussehen. Die Kinder antworten. Danach wird gefragt, ob die Kinder Mädchen oder Jungs seien. Die Kinder antworten. Ein Junge traut sich nicht zu antworten. Daraufhin fragt die Lehrerin, ob er ein Mädchen sei. Es kommt keine Antwort. Das Kind völlig eingeschüchtert. Die Lehrerin fragt schließlich mich, ob ich eine Frau sei. Ich bekomme nur ein leises „sí“ heraus. Dann dreht die Lehrerin sich erneut zum Jungen und fragt, ob er ein Mädchen sei. Die anderen Kinder beginnen zu lachen. Daraufhin antwortet der Junge, dass er ein Junge sei. Mir fehlen die Worte. Wow, da hat die Lehrerin wohl ihr Ziel erreicht. Anschließend wurden die 4-6 Jährigen Kinder über die Geschlechtsorgane aufgeklärt. Jeder Junge und jedes Mädchen haben ein bestimmtes Geschlechtsorgan, so hieß es.
Das alles anzusehen war schrecklich für mich. Noch schlimmer war es, dass ich mich dem nicht entgegensetzten konnte. Alles was ich machen konnte war, in meinem Stuhl zu versinken. Ich fühlte mich angespannt, frustriert. In mir ein riesen Kloß. Ich fühlte mich machtlos, musste das Geschehene geschehen lassen. Ich hätte so gerne Einwand erhoben, Beispiele aus der europäischen Kultur genannt. Leider musste ich mich zurückhalten, denn ich bin Gast in einer fremden Kultur. Trotz alledem, wie schrecklich ich mich in der Situation gefühlt habe, war diese ein wichtiger Teil meiner Erfahrungen, mich auf eine neue Kultur und eine andere Gesellschaft einzulassen. Die Kultur in Costa Rica beruht eben auf traditionellen und meiner Meinung nach veralteten Denkweisen – so schwer es mir auch fällt, muss ich das akzeptieren. Es ist schwer, eine Balance aus Akzeptanz und Intervention zu finden.
Trotz einiger negativer Erfahrungen, gab es zahlreiche wunderschöne und positive Momente. Sei es die Aufgeschlossenheit und Redebegeisterung der Kinder. Es scheint als würden sie interessierter und wissbegieriger an meiner Kultur und meiner Person sein, als jeder Erwachsener. Oder die Energie der Kinder, die an mir abfärbt – von Müdigkeit und Erschöpfung zu Motivation und Freude. Allein das Lächeln der Kinder wenn man sie lobt, ist unbezahlbar. Ein unbeschreiblich schöner Tag war ein Ausflug in den Park. Wir spielten zahlreiche Spiele. Die Kinder lachten ausgelassen. Sie schienen glücklich, fernab von Problemen zu Hause oder in der Schule. Ein Mädchen umklammerte mich gefühlt den ganzen Nachmittag. Ständig fragte sie mich, ob ich sie auf den Arm nehmen könne. Dann gab sie mir eine feste Umarmung und ließ mich nicht mehr los. Ein unbeschreiblich schöner Moment, in dem ich so viel Liebe und Wärme von so einem kleinen Mädchen spürte. Ebenfalls ist es toll zu sehen, wenn die Kinder nach langem Erklären und vereinzelten Tiefphasen, die Matheaufgaben verstehen und sich verbessern. Nicht nur sie sind dann stolz, auch ich bin unheimlich stolz auf sie. Dieser Moment, indem man das Gefühl hat, dass man etwas bewirken kann, ist unbeschreiblich schön. Irgendwie kann ich dann nie aufhören zu lächeln.
Der etwas andere Arbeitstag ist vorüber. Geschafft und erschöpft von der Hitze hole ich mir ein Erdnusseis bei meiner Abuela. Ich werfe mich auf das Sofa, streichle unsere Katze und lese ein wenig in einem Kinderbuch auf Spanisch. Es handelt von einem Hund – eine herzzerreißende Geschichte. Einige Augenblicke später kochen Lina und ich uns etwas Leckeres zum Abendessen und gucken eine Folge „The Hundreds“ – auf Englisch mit spanischem Untertitel. Nach dem Abwaschen und, wie immer, einer kalten Dusche lege ich mich zufrieden in mein Bett. Ich denke darüber nach wie froh ich bin, dass ich die Kinder auf ihren Wegen unterstützen kann und bin gespannt auf die nächsten Monate. Von Tag zu Tag schließe ich sie immer mehr in mein Herz. Eine Sache geht mir leider ständig durch den Kopf und hindert mich am Schlafen: Leider ist bald die Weihnachtszeit vorbei und ich muss mir neue Themen für Bastelideen ausdenken…. Hoffentlich fällt mir da etwas ein!