Die neue deutsche Welle des Antisemitismus

11. Mai 2018

Wer hätte gedacht, dass Fremdenhass eines Tages wieder salonfähig wird? Die Geschichte zeigt uns eine Sache sehr deutlich: der Mensch ist nicht besonders lernfähig. 73 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat es die sogenannte „Alternative für Deutschland“ geschafft, als rechtsradikale und rassistische Partei in den deutschen Bundestag einzuziehen. Eine Generation zwischen dem Holocaust und heute. Ein Wimpernschlag in der Zeit. Das unsagbare Leid, dass das deutsche Volk über diese Erde gebracht hat, scheint fast vergessen. Trotz Aufklärung in der Schule. Trotz riesigen Mahnmalen in großen deutschen Städten. Trotz 24 Stunden Beschallung mit Dokumentationen über die Schreckenszeit der NS-Regierung, die auf ZDF Info und nTV hoch und runterlaufen. Was läuft nur schief?

Es ist wieder toleriert und „okay“ seine Abneigung gegen fremdes in Worte zu kleiden und zu rechtfertigen. Jemandem abzulehnen und – schlimmer noch – zu verachten, weil er anders geprägt ist, als man selbst. Anders aussieht, anders lebt. Die Toleranz, die für die eigene Existenz als unantastbar stilisiert wird, jemand anderem zu verwehren und abzusprechen, ist nicht nur unglaublich unfair, sondern vor allem auch unsagbar dumm. Ein Recht, das ich anderen abspreche, kann ich nicht als selbstverständlich hinnehmen, sondern muss jederzeit damit rechnen, es selbst abgesprochen zu bekommen. Woher kommt nur die Wut auf fremdes? Wahrscheinlich ist es ein fehlgeleiteter Rückschluss der eigenen Minderwertigkeit und des eigenen Versagens. Meine Großeltern, die 75 Jahre später immer noch mit der Kollektivschuld des Zweiten Weltkrieges kämpfen, die langsam erst das Entsetzen und den eigenen Schmerz in Worte fassen können, kranken immer noch am unfassbaren Leid, das einst gesellschaftsfähiger Fremdenhass hervorgebracht hat.

Berlin 2018. Farid Bang und Kollegah – zwei Gangsterrapper, deren Lieder inhaltlich eher am unteren Ende des Niveaus zuhause sind, gewinnen den bis dato wichtigsten deutschen Musikpreis „Echo“. In ihrem Song „0815“ rappen sie folgende Zeilen:

„Und wegen mir sind sie beim Auftritt bewaffnet

Mein Körper definierter als von Auschwitz-Insassen“

Abgesehen davon, dass der gesamte kreative Erguss der beiden Herren in die Tonne getreten werden kann, weil er so abscheulich, menschenverachtend und grammatikalisch ein Albtraum für alle Menschen ist, die alphabetisiert sind, entsetzt die Tatsache bis ins Mark, ein solches Werk als „außerordentlich wertvoll“ zu ehren und hervorzuheben. Musik baut Kultur. Und die Kultur, die hier gebaut wird, steckt den Rahmen dafür, dass der Zahn der Zeit wohl den Schrecken des Zweiten Weltkriegs zermalmt hat. Den Rahmen dafür, dass eine immer breiter werdende Masse, es nicht anstößig findet, Vergleiche zu Ausschwitz Insassen zu ziehen, der einem nur die Schuhe ausziehen kann. Spätestens seit dieser Echo Veranstaltung ist es schwer, den Hass zu leugnen, der Juden hierzulande immer noch entgegenschlägt. Antisemitismus ist allerdings kein „deutsches“ Problem – auch in vielen muslimisch geprägten Ländern, sind die Wut und die Vorurteile Juden gegenüber groß.

Mitte April liefen zwei jüdische Studenten mit Kippa durch den Berliner Szene-Bezirk Prenzlauer Berg. In Berlin können Menschen barfuß rausgehen, Männer in Kleidern herumlaufen und Betonpfeiler als modisches Accessoire getragen werden, ohne, dass sich auch nur ein Kopf auf der Straße danach umdreht – in Berlin interessiert es niemanden, was der Gegenüber trägt. Die beiden jungen Männer mit der Kippa allerdings wurden von zwei Muslimen angegriffen und mit Gürteln geschlagen – denn hier hat es sehr wohl interessiert, dass die beiden als religiöses Bekenntnis eine Kippa trugen. Im Moment ist immer wieder die Rede vom sogenannten „eingewanderten Antisemitismus“ – ein Vorwurf vor allem an die Muslime, die seit der großen Flüchtlingswelle 2015 aus insbesondere Syrien, Irak und Afghanistan, in Deutschland einwandern.

Unions-Fraktionschef Volker Kauder äußerte sich daraufhin wie folgt: „Wir akzeptieren Antisemitismus in unserem Land nicht.“ Wer nach Deutschland kommen und hier leben wolle, müsse dies wissen.

Währenddessen verkündet AfD-Fraktionschef Alexander Gauland im Bundestag, wer Israelfahnen verbrenne, verwirke sein Gastrecht. Paradoxerweise betont ebendieser bei jeder Gelegenheit, wie stolz er auf die Leistung deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg ist. Jene Soldaten, die das größte antisemitische Verbrechen der Menschheitsgeschichte ermöglichten. Es ist unheimlich zu beobachten, wie eine Partei, die sich tagtäglich der geistigen Brandstiftung schuldig macht und mit der Axt auf die deutsche Erinnerungskultur einschlägt, mit dem Fingerzeig auf „die da“ – auf muslimische Mitbürger zeigt und den mehr und mehr sichtbar werdenden Antisemitismus instrumentalisiert, um die Träume eines Deutschlands in den Grenzen von 1918 zu fröhnen.

Unsere Gesellschaft würde gut daran tun, das, was sie von Einwanderern völlig zurecht erwartet, nämlich Respekt und Achtung vor dem Leben anderer, ihren Gästen bedingungslos und ausnahmslos vorzuleben. Wir alle haben die moralische Verantwortung gegen Unrecht aufzustehen – ob gegen Juden, Moslems, Christen oder Atheisten. Jeder Mensch ist wertvoll, jedes Leben gilt es zu achten. Und es beginnt mit dem gemeinsamen Dialog, mit der Entwicklung eines gegenseitigen Verständnisses und dem Abbau von Vorurteilen. Wer weiß – vielleicht bereichert am Ende die eine Kultur ja noch die Andere?

Unser Beitrag zu einer positiven Entwicklung in diesem Land ist, unser „Religionsworkshop“, der regelmäßig bei VISIONEERS stattfindet und ein gemeinsames Fundament und eine gesundes Verständnis füreinander zu entwickeln, ohne durch falsch verstandene Toleranz zu allem „ja und Amen“ zu sagen und somit wieder zu erlauben, dass jeder seine Vorurteile hochhalten und ausleben darf.